Die Psychologie totalitärer Regime und wie Bibliotherapie Licht in die Finsternis des Denkens bringt

Kaum ein Genre der Literatur fesselt so sehr, wie die Schilderung totalitärer Regime. In gesellschaftlich ruhigen Zeiten sind wir auf eine abschreckende Art und Weise fasziniert von überbordender staatlicher Kontrolle, Reglementierungen und der Gleichschaltung des Menschen. In gesellschaftlich turbulenten Zeiten, wir sie aktuell gerade erleben, können diese Romane als Mahner dienen, wohin sich eine Gesellschaft entwickeln kann, wenn die Freiheit auf dem Altar der Sicherheit und Staatskontrolle geopfert wird.  Anleitung und Anregung findet man bei Romanen, wie „Fahrenheit 451“, „Die Welle“, „1984“ oder „Die Stadt der Blinden“.

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In der dystopischen Gesellschaft von George Orwells „1984“ findet der Hauptprotagonist, Winston Smith, Hoffnung in einem Buch. „Das Buch faszinierte ihn, oder, genauer gesagt, es bestärkte ihn. Es sagte ihm eigentlich nichts Neues, doch gerade das machte einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Es sprach das aus, was er gesagt haben würde, hätte er Ordnung in seine konfusen Gedanken bringen können. Das Buch stammte von einem ihm verwandten Geist, der aber unendlich viel stärker, systematischer und weniger angstgepeinigt war.“

Auch wenn wir uns in Europa durch freie Wahlen und Parlamente im sicheren Hafen der Demokratie wähnen, finden auch hier immer wieder bedrohliche Tendenzen zur Aushöhlung der Freiheit statt. Man sollte sich auch bewusst machen, dass das Ende des 2. Weltkrieges gerade erst etwas mehr als 70 Jahre zurückliegt, nicht einmal ein Menschenleben und doch sind die Gräuel von Vielen wieder vergessen oder werden bagatellisiert.

Krisen, seien diese aus wirtschaftlicher Not, aus religiösen Konflikten oder Migrationsströmen ausgelöst, führen zwangsläufig zu Verunsicherung, wie alles was nicht kontrolliert oder verstanden werden kann. Eine ganz natürliche menschliche Reaktion. Aber leider auch der Nährboden für den Ruf nach einem starken Staat oder einem starken Führer. Damit ist die Hoffnung verbunden, alles wieder so herzustellen, wie es vor der Krise war, was meistens ein frommer Wunsch bleibt und nicht der Realität entspricht. Neue Krisen, Veränderungen der Menschen, der Gesellschaft, von Technik und Natur brauchen neue Ansätze und Lösungen. Meistens gibt es auf komplexe Probleme keine einfachen Lösungen. Das kommt dem Menschen allerdings nicht entgegen, denken die meisten von uns doch am liebsten in einfachen Handlungssträngen, in einfachen Kausalitäten, in wenn – dann Beziehungen. Was aber, wenn einfache Zusammenhänge nicht mehr ausreichen, um die Welt zu erklären? Wenn eine Handlung vielfache Reaktionen hervorrufen kann, wenn das Manipulieren an einer Stellschraube zu Kettenreaktionen führt, die man sich in den kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte. Wie dies bei der Atomkraft der Fall ist, wenn es um den Klimawandel geht oder um die digitale Revolution der Arbeit. Und wie wir es beim arabischen Frühling seit 2010 erlebt haben, als der Westen die aufkeimende Demokratisierung in verschiedenen arabischen Ländern freudig begrüßt und unterstützt hat, und wie diese entweder brutal niedergeschlagen wurde oder zu einer Destabilisierung des Landes geführt hat, verwickelt in Bürgerkrieg und Terror ohne Aussicht auf eine friedliche Entwicklung. Damit verbunden Flüchtlingsströme, die gefühlten Völkerwanderungen entsprechen, bis hinein ins Herz Europas. Etwas, was sich schon seit Jahrzehnten ankündigt, bedenkt man die Medienberichte über „die Festung Europas“, die bereits viele Jahre vor den Migrationsströmen ein düsteres Bild gemalt haben. Dieses Bild ist jetzt bei uns angekommen und überfordert Politik, Gesellschaft und auch den Einzelnen. Sei es, dass dieser nach anfänglichem Engagement eine zunehmende Erschöpfung wahrnimmt, sich allein gelassen fühlt von der Politik oder auch jene, die zwar kaum Kontakt mit Flüchtlingen haben, sich aber bedroht fühlen durch Veränderungen, die nicht absehbar sind.

Jeder Standpunkt ist legitim. Jeder Standpunkt führt zu Verunsicherung. Der ideale Nährboden für Propaganda und radikale Lösungen, da genau diese eine Richtschnur vorgeben, eine Klarheit, eine einfache Lösung, die freilich trügerisch ist.

Wir sollten es uns nicht zu gemütlich machen in unseren Demokratien. Gerade heute sind wir mehr denn je gefordert, die Freiheit des Denkens und Handelns nicht nur zu verteidigen, sondern neu zu definieren.

Auszug aus: Norman Schmid (2016). Auf der Couch mit Doktor Buch. Eine Bibliotherapie. Wien: Maudrich.

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